REIMEREI – November 2024
Der Tanz der Toten
Halloween ist Gruselzeit. Und in manchen Herbstnächten, so erzählt man sich, steigen die Toten aus ihren Gräbern und tanzen miteinander. Alle sind jetzt gleich – der Reiche tanzt mit dem Armen, der König mit dem Bettler. Aber wehe dem, der einem Toten das Leichenhemd stiehlt.
Der Totentanz
von Johann Wolfgang von Goethe
Der Türmer, der schaut zumitten der Nacht
Hinab auf die Gräber in Lage;
Der Mond, der hat alles ins Helle gebracht;
Der Kirchhof, er liegt wie am Tage.
Da regt sich ein Grab und ein anderes dann:
Sie kommen hervor, ein Weib da, ein Mann,
In weißen und schleppenden Hemden.
Das reckt nun, es will sich ergetzen sogleich,
Die Knöchel zur Runde, zum Kranze,
So arm und so jung und so alt und so reich;
Doch hindern die Schleppen am Tanze.
Und weil hier die Scham nun nicht weiter gebeut,
Sie schütteln sich alle, da liegen zerstreut
Die Hemdelein über den Hügeln.
Nun hebt sich der Schenkel, nun wackelt das Bein,
Gebärden da gibt es vertrackte;
Dann klippert's und klappert's mitunter hinein,
Als schlüg man die Hölzlein zum Takte.
Das kommt nun dem Türmer so lächerlich vor;
Da raunt ihm der Schalk, der Versucher, ins Ohr:
»Geh! hole dir einen der Laken.«
Getan wie gedacht! und er flüchtet sich schnell
Nun hinter geheiligte Türen.
Der Mond und noch immer er scheinet so hell
Zum Tanz, den sie schauderlich führen.
Doch endlich verlieret sich dieser und der,
Schleicht eins nach dem andern gekleidet einher,
Und husch! ist es unter dem Rasen.
Nur einer, der trippelt und stolpert zuletzt
Und tappet und grapst an den Grüften;
Doch hat kein Geselle so schwer ihn verletzt;
Er wittert das Tuch in den Lüften.
Er rüttelt die Turmtür, sie schlägt ihn zurück,
Geziert und gesegnet, dem Türmer zum Glück,
Sie blinkt von metallenen Kreuzen.
Das Hemd muss er haben, da rastet er nicht,
Da gilt auch kein langes Besinnen,
Den gotischen Zierrat ergreift nun der Wicht
Und klettert von Zinne zu Zinnen.
Nun ist's um den armen, den Türmer getan!
Es ruckt sich von Schnörkel zu Schnörkel hinan,
Langbeinigen Spinnen vergleichbar.
Der Türmer erbleichet, der Türmer erbebt,
Gern gäb er ihn wieder, den Laken.
Da häkelt – jetzt hat er am längsten gelebt –
Den Zipfel ein eiserner Zacken.
Schon trübet der Mond sich verschwindenden Scheins,
Die Glocke, sie donnert ein mächtiges Eins,
Und unten zerschellt das Gerippe.
Gut zu wissen ...
Türmer: Er wird auch Turmwächter genannt und hat die Aufgabe, von seinem Turm aus die Umgebung zu beobachten und vor Gefahren zu warnen.
zumitten der Nacht: Mitternacht
ergetzen: eigentlich ergötzen, vergnügen
gebeut:Hier bedeutet es: Scham hat jetzt keine Bedeutung mehr.
Schalk: Schelm, Witzbold
Geselle: Hier ist „kein anderer Untoter“ gemeint
Zierrat: Verzierung an der Fassade des Turmes
Johann Wolfgang von Goethe
Überlegt gemeinsam!
Was könnte folgender Abschnitt bedeuten:
Gern gäb' er ihn wieder, den Laken.
Da häkelt – jetzt hat er am längsten gelebt –
Den Zipfel ein eiserner Zacken.
o Das Skelett tötet den Türmer mit einem eisernen Zacken.
o Der Türmer will das Hemd zurückgeben. Aber ein Ende des Tuches verhängt sich an einem Eisenzacken.
o Der Türmer häkelt schnell mit Metallnadeln ein neues Totenhemd.
Jetzt bist du dran!
Beschreibe den Totentanz aus der Sicht eines Skeletts. Schlüpfe dazu in seine Rolle und schreibe einen kurzen Text. Beschreibe, was das Skelett denkt, fühlt und was es um sich herum wahrnimmt.
Vergleicht anschließend eure Texte in der Klasse.
Filmtipp
Schau dir zur Belohnung den animierten Film „Totentanz" auf Youtube an: Steffen Troeger und Andreas Mooslechner haben Goethes Ballade mit Hilfe der Stopp-Motion-Technik als Lego-Trickfilm (Brickfilm) animiert. Diese fantasievolle Inszenierung ist in der Brickfilm-Szene preisgekrönt.