Gedichte von Rainer Maria Rilke
REIMEREI: Die Blätter fallen
Die hellen, unbeschwerten Sommertage sind vorbei – leider! Es wird früher dunkel und die Natur bereitet sich auf den langen Winter vor. Die Zeit des Blätterfallens hat die Menschen immer schon nachdenklich gestimmt. Und sie hat viele Dichter*innen dazu gebracht, diese Gedanken festzuhalten. Einer, der besonders schöne Herbstgedichte geschrieben hat, war Rainer Maria Rilke.
Wer war Rainer Maria Rilke?
Rainer Maria Rilke wurde als René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke 1875 in einer österreichischen Familie in Prag geboren, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte. Seine Mutter hatte sich eigentlich eine Tochter gewünscht. Sie kleidete und erzog den kleinen René in den ersten Jahren wie ein Mädchen. Damit aus dem Buben ein „richtiger Mann“ wird, steckte ihn der Vater in die Militärschule in St. Pölten. Nach sechs Jahren brach der unglückliche René die Schule ab und ging seinen eigenen Weg. Heute gilt Rilke als der Superstar der modernen Dichtkunst. Er starb 1926 in der Schweiz.
Herbst
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Rainer Maria Rilke
Damit du das Gedicht „Herbst“ besser verstehst:
- „sie fallen mit verneinender Gebärde.“
Die welken Blätter wippen hin und her, als würden man den Kopf schütteln. Sie sagen „nein“ zum Leben.
- „Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.“
Das Wort „fallen“ bedeutet, dass alle Menschen sterblich sind.
Wer oder was könnte mit „Hand“ gemeint sein?
- „Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.“
Rilke glaubt, dass die Menschen in ihrer Sterblichkeit von einem liebevollen Wesen (Gott?) gehalten werden.
Herbsttag
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Rainer Maria Rilke
Damit du das Gedicht „Herbsttag“ besser verstehst:
- In der ersten Strophe wendet sich der Dichter direkt an Gott. Rilke beschreibt ihn als mächtiges Wesen, der seinen Schatten auf die Sonnenuhren wirft und auf den Fluren (den kahlen Feldern) die Winde loslässt – wie rasende Jagdhunde.
- In der zweiten Strophe bittet der Dichter um letzte Sommertage, damit die Früchte richtig reif werden können.
- In der letzten Strophe spricht Rilke zu sich selbst. Nachdenklich beschreibt er, wie ein einsamer Mensch seine dunklen Herbsttage verbringt.
Besonders gefühlvoll liest dir der deutsche Schauspieler Otto Sander die beiden Gedichte vor: