
REIMEREI – Jänner 2026
Der Reiter und der Bodensee
TOPIC steht im Jänner ganz im Zeichen von Eis und Kälte – auch unsere Lyrik! Wir stellen dir eine Ballade vor, die dich auf einen eiskalten Ritt mitnimmt – mit Gänsehautgarantie!

Der Reiter und der Bodensee
Eine Ballade von Gustav Schwab
Der Reiter reitet durchs helle Tal,
Auf Schneefeld schimmert der Sonne Strahl.
Er trabet im Schweiß durch den kalten Schnee,
Er will noch heut an den Bodensee;
Noch heut mit dem Pferd in den sichern Kahn,
Will drüben landen vor Nacht noch an.
Auf schlimmem Weg, über Dorn und Stein,
Er braust auf rüstigem Ross feldein.
Aus den Bergen heraus, ins ebene Land,
Da sieht er den Schnee sich dehnen wie Sand.
Weit hinter ihm schwinden Dorf und Stadt,
Der Weg wird eben, die Bahn wird glatt.
In weiter Fläche kein Bühl, kein Haus,
Die Bäume gingen, die Felsen aus;
So flieget er hin eine Meil, und zwei,
Er hört in den Lüften der Schneegans Schrei;
Es flattert das Wasserhuhn empor,
Nicht anderen Laut vernimmt sein Ohr;
Keinen Wandersmann sein Auge schaut,
Der ihm den rechten Pfad vertraut.
Fort gehts, wie auf Samt, auf dem weichen Schnee,
Wann rauscht das Wasser, wann glänzt der See?
Da bricht der Abend, der frühe, herein:
Von Lichtern blinket ein ferner Schein.
Es hebt aus dem Nebel sich Baum an Baum,
Und Hügel schließen den weiten Raum.
Er spürt auf dem Boden Stein und Dorn,
Dem Rosse gibt er den scharfen Sporn.
Und Hunde bellen empor am Pferd,
Und es winkt im Dorf ihm der warme Herd.
»Willkommen am Fenster, Mägdelein,
An den See, an den See, wie weit mags sein?«
Die Maid sie staunet den Reiter an:
»Der See liegt hinter dir und der Kahn.
Und deckt' ihn die Rinde von Eis nicht zu,
Ich sprach, aus dem Nachen stiegest du.«
Der Fremde schaudert, er atmet schwer:
»Dort hinten die Ebene, die ritt ich her!«
Da recket die Magd den Arm in die Höh:
»Herr Gott! so rittest du über den See!
An den Schlund, an die Tiefe bodenlos,
Hat gepocht des rasenden Hufes Stoß!
Und unter dir zürnten die Wasser nicht?
Nicht krachte hinunter die Rinde dicht?
Und du wardst nicht die Speise der stummen Brut?
Der hungrigen Hecht in der kalten Flut?«
Sie rufet das Dorf herbei zu der Mär,
Es stellen die Knaben sich um ihn her;
Die Mütter, die Greise, sie sammeln sich:
»Glückseliger Mann, ja, segne du dich!
Herein zum Ofen, zum dampfenden Tisch,
Brich mit uns das Brot und iß vom Fisch!«
Der Reiter erstarret auf seinem Pferd,
Er hat nur das erste Wort gehört.
Es stocket sein Herz, es sträubt sich sein Haar,
Dicht hinter ihm grinst noch die grause Gefahr.
Es siehet sein Blick nur den gräßlichen Schlund,
Sein Geist versinkt in den schwarzen Grund.
Im Ohr ihm donnerts wie krachend Eis,
Wie die Well umrieselt ihn kalter Schweiß.
Da seufzt er, da sinkt er vom Ross herab,
Da ward ihm am Ufer ein trocken Grab.
Veraltete Wörter neu erklärt:
Kahn: kleines Boot, Ruderboot
Ross: Pferd (altdeutsch)
Bühl: Hügel
Maid: junge Frau
Rinde (vom Eis): Eisdecke
recket (sich die Magd …): sie hebt den Arm
Schlund: gefährlicher Abgrund
Hufes Stoß: der Tritt des Pferdehufs
zürnten: waren wütend
stumme Brut:hier: die Fische im See
Mär: Geschichte (oft gruselig)
dampfender Tisch: ein Tisch mit heißem Essen
Worum geht es?
Ein Reiter reitet in großer Eile durch eine Winterlandschaft. Sein Ziel ist der Bodensee, den er noch vor Einbruch der Nacht mit einem Fährboot überqueren will. Die Landschaft wird immer ebener und weiter, bis er schließlich auf einer glatten Fläche reitet. Er ahnt nicht, dass er sich auf dem zugefrorenen Bodensee befindet. Erst als er das andere Ufer erreicht und ein Mädchen im Dorf nach dem Weg zum See fragt, wird ihm bewusst, was er gerade getan hat: Er ist – ohne es zu wissen – in Lebensgefahr über das dünne Eis des Sees geritten.
Einige Dorfbewohner eilen herbei und staunen über diese Heldentat. Doch der Reiter ist von dieser Erkenntnis so erschüttert, dass er geschockt vom Pferd fällt – und stirbt.
Wer war Gustav Schwab?
Gustav Schwab lebte von 1792 bis 1850 und war ein deutscher Dichter, Pfarrer und Lehrer. Er liebte alte Sagen. Besonders bekannt wurde er durch seine Sammlung „Die schönsten Sagen des klassischen Altertums“, in der er griechische Mythen nacherzählte.
Schwab schrieb oft Balladen – also spannende Gedichte, die eine Geschichte erzählen. „Der Reiter und der Bodensee“ ist eine davon. Die Sprache ist altmodisch, aber eindringlich. Die Reime und der Rhythmus geben der Ballade Tempo – man spürt fast das galoppierende Pferd.
Tauscht euch in der Klasse aus:
Das war knapp! Das war „ein Ritt über den Bodensee“! Diese Redewendung verwendet man, wenn man im Nachhinein bemerkt hat, in welch gefährlicher Situation man gerade war. Hast du so eine Situationen schon erlebt? Erzählt einander davon.

Friert der Bodensee wirklich zu?
Die Ballade hat einen wahren Hintergrund. Es wird erzählt, dass im Jahr 1573 der Postbeamte Andreas Egglisperger mit seinem Pferd über den zugefrorenen Bodensee geritten ist.
Das letzte Mal war der Bodensee im Winter 1962/63 komplett zugefroren. Wegen der Klimaerwärmung ist es heute sehr unwahrscheinlich, dass das noch einmal passiert.
Was wäre, wenn ...?
Denke dir einen anderen Handlungsverlauf aus und schreibe eine Kurzgeschichte oder einen Tagebucheintrag.
Was wäre passiert, wenn …
- … das Eis gebrochen wäre?
- … den Reiter jemand gewarnt hätte?
- … er die Wahrheit schon unterwegs gemerkt hätte?
- … der Reiter nicht sterben würde?
Schau dir den Text nochmal genauer an:
- Wie viele Verse hat jede Strophe?
- Welches Reimschema erkennst du? (z. B. aabb, abab ...)
- Was bewirkt dieser Rhythmus?
- Wie viele Zeilen (= Verse) hat jede Strophe?
Besprich deine Ergebnisse mit einer Mitschülerin oder einem Mitschüler.
Hier kannst du dir die Ballade vorlesen lassen.


