Autor: Siegfried Weger
Auch wenn seine Sprache manchmal alt oder schwierig wirkt, lohnt es sich, Rilke zu entdecken. Seine Texte laden dazu ein, über sich selbst und die Welt nachzudenken.
TOPIC hat für dich drei besonders schöne Gedichte ausgesucht: ein Weihnachtsgedicht, ein Liebesgedicht und ein Gedicht, das zum Nachdenken anregt.

Foto: Aaliayah Louissant / Shutterstock.com
Wunderweiße Nächte
Es gibt so wunderweiße Nächte,
drin alle Dinge Silber sind.
Da schimmert mancher Stern so lind,
als ob er fromme Hirten brächte
zu einem neuen Jesuskind.
Weit wie mit dichtem Diamantenstaube
bestreut, erscheinen Flur und Flut,
und in die Herzen, traumgemut,
steigt ein kapellenloser Glaube,
der leise seine Wunder tut.
Jetzt seid ihr dran!
Überlegt gemeinsam:
o Was bedeutet „wunderweiß“?
o Was könnte mit „kapellenloser Glaube“ gemeint sein?
o Welche Stimmung spiegelt das Gedicht wider: fröhlich, traurig, besinnlich, zauberhaft, magisch …?
Das bedeutet das Gedicht:
Das Gedicht lädt uns ein, still zu werden, die Natur zu beobachten und an das zu glauben, was man nicht sehen, aber fühlen kann. Rilke beschreibt eine besondere Winternacht. Alles ist still, weiß und glitzert im Licht – als wäre die Welt verzaubert. Der Schnee macht die Landschaft silbern und geheimnisvoll, und sogar die Sterne scheinen besonders sanft zu leuchten.
Rilke erinnert die Winternacht an die Nacht, in der Hirten einem Stern folgen, um das Jesuskind zu finden. Es gibt keine Kirche, keine Kapelle – der Glaube kommt direkt aus dem Herzen.
Liebeslied
Wie soll ich meine Seele halten, dass
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach, gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Geiger hat uns in der Hand?
O süßes Lied.
Jetzt bist du dran!
1. Denke über folgende Fragen nach:
o Was bedeutet es, dass die zwei Saiten „eine Stimme“ ergeben?
o Wer spricht in dem Gedicht? An wen richtet sich das „du“?
o Findest du, dass die Liebe in diesem Gedicht eher schön oder traurig klingt?
2. Tausche dich mit einer Mitschülerin/einem Mitschüler über die Fragen aus.
3. Schau dir jetzt eine Vertonung des Rilke-Gedichts an.
(Öffne dazu das Video unterhalb.)
Passt die Stimmung im Video zu dem, wie du das Gedicht verstanden hast?
Videoquelle: Schönherz & Fleer - Rilke Projekt / YouTube
Das bedeutet das Gedicht:
Das Gedicht „Liebeslied“ vergleicht zwei Menschen mit „zwei Saiten“ auf einem Musikinstrument. Der Dichter Rainer Maria Rilke war selbst oft verliebt.
Eine seiner großen Lieben war die Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé. Mit ihr reiste er nach Russland, um den berühmten Dichter Leo Tolstoi zu treffen.
Später lernte Rilke in der Künstlerkolonie Worpswede die Bildhauerin Clara Westhoff kennen. Er heiratete sie, aber die Ehe hielt nicht lange.

Foto: Manfred Ruckszio / Shutterstock.com
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
Überlegt gemeinsam!
Überlegt zu zweit:
o Rilke beschreibt die Suche nach dem Sinn des Lebens als ein Kreisen um den Turm. In welcher Form?
o Was könnten die drei Begriffe bedeuten: Falke, Sturm, großer Gesang?
o Was meint der Dichter mit „wachsenden Ringen“?
Das bedeutet das Gedicht:
Rilke beschreibt sein Leben wie Ringe, die immer größer werden – wie Jahresringe bei einem Baum oder Wellen auf einem Teich. Er meint: „Ich lerne immer mehr dazu und verstehe die Welt besser. Vielleicht werde ich nie alles wissen – aber ich möchte es zumindest versuchen!“
Er fühlt sich wie in Bewegung um etwas sehr Großes – vielleicht um Gott – und fragt sich: Was bin ich eigentlich? Ein Falke? Ein Sturm? Ein Lied?
Schreibe einen kurzen Text
Beginne den Text mit: „Ich bin wie …“ Vergleiche dich mit einem Tier, einer Naturkraft oder etwas anderem – so wie Rilke es tut.
Beispiel: Ich bin wie ein Fluss – ich fließe durch die Welt, manchmal ruhig, manchmal wild.
Rainer Maria Rilke wurde 1875 in Prag geboren. Seine Kindheit war nicht einfach. Die Mutter hatte sich eigentlich eine Tochter gewünscht und zog ihn in den ersten Jahren wie ein Mädchen an. Sein Vater schickte ihn früh auf eine Militärschule – doch dort gefiel es ihm gar nicht. Rilke war sensibel, künstlerisch interessiert und fühlte sich dort fehl am Platz. Er wollte kein Soldat werden. Stattdessen studierte er in Prag, München und Berlin Kunst und Literatur. Er wurde einer der bedeutendsten Dichter des letzten Jahrhunderts.
Rilke starb 1926 in der Schweiz an Leukämie. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in einem kleinen Schloss namens Muzot im Wallis.